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ES WAR EINMAL …

Familie und Freunde warten gespannt auf die erste Textnachricht: Mami und Sohnemann sind wohlauf. Unser Pirat ist um 11.06 Uhr geboren und hat ein stattliches Gewicht von 3900g, … So stellen sich wohl die meisten diesen unvergesslich schönsten Tag im Leben einer Familie vor. Bei uns gab es auch Ballons, aber die hingen am Nachbarsbett …

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Es war einmal ein besonders frühlingshafter und sonniger Tag im Januar. Der Tag war genauso sorgenlos und leicht, wie die gesamte Schwangerschaft bisher ohne Komplikationen verlaufen war und sämtliche Vorsorgeuntersuchungen bilderbuchmässige Resultate präsentiert hatten. Der werdende Vater, hatte sich den Vormittag freigenommen um bei der Routinekontrolle bei der Frauenärztin mit dabei sein zu können. Auf dem Weg wurde noch fröhlich diskutiert, dass man ab heute nicht mehr ins Unispital müsse, weil ab heute die SSW 34 erreicht wäre und man in das gewünschte Geburtenhaus dürfe.

 

Die Untersuchung der 34. Schwangerschaftswoche hatte auch ganz normal begonnen. Das Routinegespräch war bereits erfolgt, ich liege zum Ultraschall bereit und die Ärztin verteilt wie immer das kalte Gel auf meinem runden Bauch… und verteilt es und verteilt es, … aber keine Herztöne ertönen. Mit dem leeren Rauschen des Ultraschallgeräts verstummt auch die Ärztin. «Sind Sie mit dem Auto da? Haben Sie in der Nähe parkiert?» und schon wird Papa losgeschickt, während ich mich anziehen soll. Die Herztöne seien kaum zu hören, wir werden in der Notaufnahme des Unispitals angemeldet um das CTG direkt vor Ort zu machen um keine Zeit mehr zu verlieren. 

Die Fahrt zum Krankenhaus dauert keine vier Minuten, doch sie kommen uns unendlich lange vor. Vor Ort werden wir gebeten, im Wartezimmer Platz zu nehmen, bis die Sachbearbeiterin aus der Mittagspause zurück sei, doch das tun wir nicht. Ich gehe zielstrebig aber besonnen zur nächsten Pflegefachkraft und frage nach der Entbindungsstation, wo wir dann endlich hingebracht und bereits von fünf Ärztinnen und Pflegerinnen erwartet werden.

 

Keine fünfzehn Minuten später wird mir unser Kind viel zu früh per Notfallkaiserschnitt aus dem Bauch gerissen. Welches Abenteuer uns erwartet, können wir zu diesem Zeitpunkt nur erahnen. Mehr als vierzehn Menschen sind im OP um mich herum beschäftigt, trotzdem herrscht Totenstille als unser kleiner Pirat geholt wird. Wir können keinen Mucks hören und es bleibt keine Zeit, auch nur einen Blick von ihm zu erhaschen, er wird sofort weggebracht.

 

Stunden später die erste Nachricht, dass man uns noch nichts Genaueres berichten könne. Wir dürfen zu ihm, sobald er stabil sei. Es vergehen nochmals Stunden und draussen ist es schon dunkel, da endlich werde ich im Spitalbett auf die Neointensivstation gestossen und wir dürfen unseren Zwerg zum ersten Mal sehen und berühren. Er ist über längere Zeit reanimiert und beatmet worden. Momentan aber stabil. Die besten Nachrichten der nächsten Wochen. Wie hätten wir diese genossen, hätten wir gewusst, was noch alles auf uns zukommt.

 

Bereits in der Nacht verschlechtert sich der Gesundheitszustand unseres Piraten zunehmend. Die Untersuchungen zeigen eine schwere Hirnblutung, die sich unaufhaltsam immer weiter ausbreitet. So stark bis auf dem Ultraschallbild irgendwann nur noch ein einziger grosser Fleck statt der rechten Hirnhälfte zu sehen ist. Die Ventrikel werden gross wie Ballons und die rechte Hirnhälfte fängt an auf die linke zu drücken und diese ebenfalls zu beschädigen. Mit uns wird das Gespräch gesucht und wir werden darauf vorbereitet, dass am nächsten Tag die Ethikkommission ein Konsil halten wird. Wir glauben zu diesem Zeitpunkt noch daran, dass wir ein Mitspracherecht haben, ob wir unser Abenteuerkind gehen lassen müssen, während wir es zum ersten Mal in unseren Armen halten würden.

 

Die Ärzte und PflegerInnen glauben zu diesem Zeitpunkt nicht mehr daran, dass unser Pirat diesen Kampf gewinnen wird und wir bereiten uns auf einen Abschied vor. Aber es geschieht ein Wunder: Unser Kämpfer beginnt selbständig zu atmen und das geplante Konsil wird hinfällig.

 

Seine Hirnblutung nimmt trotzdem unaufhaltsam zu und da unzählige Punktionen nicht helfen, findet bereits nach ein paar Tagen die erste von zwei Hirnoperationen statt. Unserem Piraten wird ein Rickham-Reservoir eingesetzt und so versucht seinen Hirndruck zu entlasten.

 

Nach Monaten auf der Neointensiv und wochenlangem Rooming-In dürfen wir dann endlich nachhause. Da stehen wir nun ganz alleine, ohne Hebamme, ohne Spitex ausgerüstet mit einem Reanimations-Crash-Kurs, Merkblättern, Schläuchen, Sauerstoffgerät, Monitor, Taschen voller Medikamente, … Mit einem Kind das weder auf visuelle noch auditive Reize reagiert, das keinen Laut von sich geben kann, ausser ein leises Pfeifen beim atmen. Ein Kind das knapp seinen Kopf bewegen kann, das keine Emotionen zeigt, ausser Angst, wenn wir es berühren. Angst wenn wir es in den Arm nehmen, Verweigerung, Panik und Krämpfe vor jeder Spritze oder der Sauerstoffmaske, die seinen Mund berührt, … unser Abenteueralltag beginnt.

 

Genau genommen startet unser Abenteuer bereits am nächsten Morgen um 8 Uhr (knapp elf Stunden nach Entlassung) mit unserem ersten Spitaltermin in der Hals- Nasen-Ohren-Klinik. Denn die Vermutung im Spital wurde laut, dass unser Zwerg hochgradig schwerhörig sei. Von diesem Zeitpunkt an sind wir über ein Jahr lang zwei bis drei Mal pro Woche bei Arzt- oder Spitalterminen. Die restlichen Tage sind mit Therapien ausgefüllt.

 

Den vierten Monat haben wir geschafft, da kollabiert unser kleiner Seeräuber aufgrund seiner Trachealstenose während eines Routine-MRIs. Erneut muss er beatmet werden. Damit sein Tubus nicht herausfällt, wird er nach der Notfall-OP, bei der ihm ein Shunt eingesetzt wird, über Tage sediert werden. Eigentlich sollen wir nach Lausanne ins CHUV transportiert werden, wo ein Spezialist entscheidet, ob das Narbengewebe an der Luftröhre operativ entfernt werden kann oder ein Luftröhrenschnitt notwendig ist. Jedoch entwickelt unser Kämpfer währenddessen eine schwere Sepsis.

Wieder zittern wir Tage lang um unseren kleinen Überlebenskämpfer. Wieder wagt keiner zu glauben, dass er überleben wird.

Nachdem die Sepsis überstanden ist, folgt der Transport mit der Rega nach Lausanne. Alleine der Transfer vom Pflegebett auf die Transportliege dauert Stunden. Schlussendlich landen wir doch noch in Lausanne für weitere Operationen an der Luftröhre. Zurück im Ursprungsspital, wird auf mein Drängen endlich eine Augenuntersuchung durchgeführt. Diese bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen: Bei unserem kleinen Mann hat sich die Netzhaut abgelöst und er ist auf seinem «gesunden» Auge blind. Zitat: «Hätte man das früher erkannt, hätten wir etwas tun können.»

Nach Hundertundeiner Spital-Nacht werden wir endlich entlassen. Wieder sind wir alleine, wieder ohne Spitex und der Erschöpfung nahe.

Unsere Nächte sind seither nicht einfacher oder besser geworden. Noch immer lagern wir unseren Piraten nachts mehrmals stündlich um, damit er im Schlaf genügend Sauerstoff bekommt. Wir halten die Sauerstoffmaske vor sein Gesicht, richten seinen Abduktionskeil, kontrollieren den Monitor und lassen diesen dirigieren, wie die nächste Intervention aussehen muss, … 24 Stunden täglich, 7 Tage die Woche, ohne Ferien, ohne Pausen wird unser kleiner Pirat seit seiner Geburt durch uns überwacht und gepflegt. Im Spital wird diese Arbeit in drei Schichten über den Tag hinweg aufgeteilt und jeweils durch zwei Pflegefachpersonen gleichzeitig abgedeckt. Zuhause leisten Mami und Papi seit Jahren diesen Dienst alleine. Erst nach über einem Jahr Rechtsstreit wurde uns von der IV eine Hilflosenentschädigung und ein Assistenzbeitrag gewährt. 

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Für jede Nacht im Spital und jeden Tag den wir schaffen, nähe ich ein kleines Huhn. Die sitzen heute noch im Kinderzimmer und passen auf unseren kleinen Piraten auf.

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Erst nach Wochen dürfen wir unseren Zwerg endlich zum ersten Mal in die Arme nehmen und ihn vorsichtig halten.

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